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Sommer 2016 |
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Seite 33 Stefan Kutzenberger: Jokerman
Zum Abschluss unserer Sommerreihe „Seite 33“ verletze ich die Regeln des Anstands und auch die Regeln des Spiels. „Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren“, riet der englische Schriftsteller Ford Madox Ford. Klappentexte und die ersten Seiten sind oft besonders geschliffen und konzentriert komponiert, sodass sie täuschen können. Auf Seite 99 jedoch ist man bereits viel weiter, hier zeigt sich die wahre Qualität des Werks. Gedacht war dieser "page 99 test" zur Qualitätsfeststellung uns unbekannter Texte. Unser Ansatz war zu untersuchen, ob auch kanonisierte Werke der Weltliteratur dieser Prüfung standhalten. Wir verlegten die betreffende Seite nach vor und ich behauptete darüber hinaus, dass in jedem literarischen Werk auf der magischen Seite 33 ein Satz versteckt ist, der das ganze Buch in sich enthält. Diese Überlegung, kombiniert mit Fords Diktum, „die Qualität des Ganzen wird sich offenbaren“, war so reizvoll, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte und als heutigen Text einen eigenen vorlege. Ich bin einfach zu neugierig, ob sich mein neuer Roman, der praktisch fertig ist, an dem aber noch gefeilt werden muss, bei der strengen Seite 33-Prüfung bewährt. Natürlich ist es vermessen, peinlich und dreist, nach Borges und Cervantes sich selbst auf den Prüfstand zu stellen, doch wann, wenn nicht in der Kunst, darf man vermessen, peinlich und dreist sein, darf man die Regeln des Anstands und des Spiels brechen? Dazu sind wir da. Also:
Die Seite 33 des Manuskripts (die in der gedruckten Form wohl eher Seite 50 werden wird) beginnt mit einem Marcel, der uns, die wir betrunken im Kreis wanken („wir“, Zeile 4 und 7), einen gelehrten Vortrag über brasilianische Literatur oder Literatur allgemein gibt. Dann schlafen wir ein (Zeile 7), und es ist nicht ganz klar, wer dieses „Wir“ ist. In Zeile 9 offenbart sich ein „Ich“ als Teilmenge dieses „Wir“, und wacht mit einem entsetzlichen Kater auf, im Bett mit zwei Frauen, die anscheinend auch Teil des „Wir“ des Vorabends waren. Die beiden Frauen werden auf dieser Seite keine Rolle mehr spielen, und es hat den Anschein, dass die potentiell reizvolle Situation, zwei Portugiesinnen und ein Mann in einem Bett, keine sexuelle war, was sich im Lauf des Buchs, in dem es aus den verschiedensten Gründen nie zu erotischer Nähe kommen kann, bestätigen wird. In Zeile 14 spricht Marcel in einer nicht durch Anführungszeichen markierten direkten Rede. Trotzdem wird klar, dass ab Zeile 16 die Erzählstimme wieder dem Ich-Erzähler gehört, der, obwohl er lieber bleiben würde, sich aus einem unbestimmten Pflichtbewusstsein heraus entschließt, den ursprünglichen Plan durchzuführen und mit Marcel nach Madrid zu fahren. Es beginnt ein Roadtrip, der die beiden in wenigen Sätzen quer durch Portugal bis zur spanischen Grenze führt. Marcel bestellt in einer Taverne auf Portugiesisch „uma Cola“ (kursiv markiert statt mit Anführungszeichen) und ein anderer Gast beginnt auf Englisch zu singen: „They say ev’ry man needs protection / They say ev’ry man must fall“. Die Seite endet mit dieser Liedzeile aus Bob Dylans „I Shall Be Released“. Die Verse Dylans wirken wie eine Prophezeiung, und sie sind der entscheidende Satz der Seite 33, der bereits das ganze Buch enthält. „Jokerman“ ist nämlich ein Bob Dylan-Roman, in dem zufällige Textfragmente aus dem großen (und großartigen) Oeuvre des Literaturnobelpreisträgers wie die Heilige Schrift behandelt werden, was zu einer verwirrenden Weltverschwörung führt.
Es kommen auf dieser einen Seite tatsächlich, auch abseits von Bob Dylan, bereits alle Motive des Romans vor: die sexuelle Passivität des Protagonisten, immer wieder angedeutete Bezüge zur brasilianischen Literatur, das Reisen von Stadt zu Stadt, das einer Flucht gleichkommt, der Glaube an die Kraft der Literatur (und im Besonderen an die Verse Dylans), der Zweifel an der Gültigkeit der Literatur (und im Besonderen der Verse Dylans), das vergebene Streben nach Intimität und Freundschaft.
Auf unheimliche Weise stellt sich heraus, dass der als Spiel konzipierte „Seite 33-Test“ in der Tat ein mächtiges Orakel darstellt, das auch auf Manuskriptseiten anwendbar ist. „Page 33“ enthält den gesamten Roman in nuce.
Damit übergeben wir den Test der Allgemeinheit. Die Anwendungsgebiete sind zahlreich: Für die Kaufentscheidung in der Buchhandlung, für die Lektüreabkürzung dicker Klassiker, für die Lektüreabkürzung vor Prüfungen, und offensichtlich auch für die Qualitätsbestimmung eigener Texte.
Viel Spaß mit dem Seite 33 Test!
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