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Seite 33 Jorge Luis Borges: Fiktionen
Jedes gültige Kunstwerk ist, so wie das Leben, ein Fraktal. Das heißt, in der kleinsten Einheit ist bereits das Ganze enthalten. Jede einzelne Zelle unseres Körpers beinhaltet die gesamte Information unserer Gestalt, und vielleicht sogar unserer Persönlichkeit, unseres Geistes. Ein Zweig ähnelt dem Ast, an dem er wächst, der wiederum dem Baum gleicht, der ihn hält. Genauso verhält es sich mit dem Bach, der in den Fluss fließt, der in den Strom mündet. Solch strukturelle Wiederholungen lassen sich auch künstlich, mathematisch erzeugen, wofür der Mathematiker Benoît Mandelbrot 1975 den Begriff Fraktal prägte, der sich vom lateinischen „fractus“ für „zerbrochen“ herleiten lässt. Finden wir eine Scherbe, können wir daraus die Form des Kruges ableiten, aus einem Knochensplitter das dazugehörige Tier. Auf fast magische Weise trifft das auch auf die Literatur zu. Eine beliebige Seite, ein beliebiger Satz kann uns Auskunft über das ganze dazugehörige Kunstwerk geben. Vor allem, wenn diese Seite die Nummer 33 trägt, denn schließlich starb Jesus, die Hauptfigur des erfolgreichsten Buchs aller Zeiten, mit dreiunddreißig Jahren, das kann kein Zufall sein. Der 1944 erschienene Erzählband „Fiktionen“ des argentinischen Autors Jorge Luis Borges illustriert diese These besonders beeindruckend. Auf Seite 67 bestätigt Borges selbst nämlich die fraktale Struktur des Kosmos’: „Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen“. Wie schaut es allerdings auf Seite 33 aus? Die Seite 33 aus „Fiktionen“ ist die vorletzte Seite der ersten Erzählung mit dem schönen Titel „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, die relativ schwer zu verstehen ist, da Borges nichts Anderes unternimmt, als zuerst ein Land und dann gleich einen ganzen Planeten zu erschaffen, auf dem eine andere Logik herrscht als auf Erden. In dieser Logik, die derjenigen der idealistischen Philosophie ähnelt, können Dinge entstehen, indem man sie sich vorstellt. Diese Objekte beginnen in der Erzählung nun plötzlich auch in verschiedenen Ländern unserer Erde auftauchen (Zeile 3-5). Die dazugehörige Fußnote zeigt, dass Borges mit den Merkmalen eines wissenschaftlichen Essays spielt, so wie die Sprache allgemein dokumentarisch nüchtern wirkt. Borges’ Prosa ist dabei so dicht gewoben, so exakt eingesetzt, so auf das Wesentliche reduziert, dass es ihm unmöglich war, einen Roman zu schreiben. Seine längste Erzählung hat gerade einmal zwanzig Seiten. Auch „Tlön“ ist extrem präzise komponiert, die erschreckende Behauptung von Zeile 11-15 könnte auf die Erzählung selbst gemünzt sein: „Noch vor zehn Jahren reichte jede den Anschein von Ordnung erweckende Symmetrie – der dialektische Materialismus, der Antisemitismus, der Nazismus – völlig aus, die Menschen zu betören.“ (Borges schrieb die Erzählung 1940). Die Symmetrie, die Ordnung spricht uns Menschen also an, verführt uns, weil unsere eigene Welt chaotisch und undurchschaubar erscheint. Mit einer für ihn typischen Wendung widerspricht Borges diesem Gefühl: es sei überflüssig zu erwähnen, dass auch unsere Wirklichkeit geordnet ist. (Dies ist die rhetorische Figur der Paralipse, bei der man vorgibt, ein Thema übergehen zu wollen, es aber eben durch diese Ankündigung doch erwähnt und damit besonders hervorhebt). Wir verstehen aber die uns umgebende Ordnung nicht, da diese eine göttliche, das heißt unmenschliche sei (Zeile 19-20). Borges erschreckt uns hier mit seiner unwiderlegbaren Logik: Gott ist kein Mensch und damit unmenschlich. Deshalb neigen wir dazu, von den simpleren Strukturen der von Menschen geschaffenen Wirklichkeiten verführt zu werden. Und diese Strukturen sind, neben der plumpen Symmetrie des Nationalsozialismus, vor allem in der Fiktion, also in der Literatur, zu finden. Im entscheidenden Satz dieser Seite, im entscheidenden Satz der Erzählung, im entscheidenden Satz im Gesamtwerk Borges’, übernimmt deshalb die Fiktion die Herrschaft über die undurchschaubare Wirklichkeit: „schon nimmt in den Memoiren eine fiktive Vergangenheit die Stelle einer anderen ein“. (Zeile 31-32). Nicht von ungefähr heißt die Erzählsammlung, in der sich „Tlön“ befindet, „Fiktionen“. Es ist die Fiktion, die unser Leben bestimmt, es ist die Fiktion, die unserem Leben Sinn verleiht. Die Fiktion, darf allerdings nicht mit dem ungeschlachten Begriff der „fake news“ des ungeschlachten Präsidenten der USA verwechselt werden, diese ist nur der „Anschein von Ordnung “, die allerdings laut Borges noch immer ausreicht, um „die Menschen zu betören“. Literatur dagegen betört nicht, sie bereichert, sie ergänzt und sie bringt Harmonie (Zeile 29) in unsere so wirre Realität.
Als Referenztext genutzt wäre eine denkbare Übung, so konzentriert und exakt wie möglich, in einem dokumentarisch knappen Stil – der gleichzeitig überraschende rhetorische Mittel verwendet – zu versuchen, eine Welt zu beschreiben, die einer anderen Logik als der unseren folgt.
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